„Perfekte Requirements Engineers“ – Ansatz einer Kompetenzanalyse zur Bestimmung des Lehrumfangs Martina Müller-Amthor, Prof. Dr. rer. nat. Georg Hagel Fakultät Informatik Hochschule Kempten Bahnhofstraße 61 87435 Kempten Martina.Müller-Amthor@hs-kempten.de Georg.Hagel@hs-kempten.de Abstract: Welche fachlichen und überfachlichen Kompetenzen sollte eine Absolventin oder ein Absolvent der (Wirtschafts-)Informatik haben, wenn sie oder er der zukünftigen Aufgabe eines Requirements Engineers gewachsen sein möchte? Die vorliegende systematische Analyse von zahlreichen Basiskompeten- zen birgt die Möglichkeit, einen Entwicklungsdialog zu führen. Stimmige und geeignete Lehr- und Lernarrangements mit passgenauen Rahmenbedingungen sol- len die Lehrenden für das gewünschte Kompetenzprofil sensibilisieren und Moti- vation zum Lehrprozess erzeugen. Das analytische und erfahrungsbasierte Vorge- hen wird anhand ausgewählter Experimente erprobt, untersucht und bewertet. 1 Forschungslogischer Aufbau Formuliertes Ziel ist die kompetenzorientierte Adaption von innovativen, interdis- ziplinären und individuellen Lehr- und Lernstrategien. Dazu soll von folgenden Frage- stellungen ausgegangen werden: Wie handeln Praktiker in komplexen Situationen? Wie gehen Experten von Requirements Engineering (RE) in der Praxis mit ihren komplexen Berufsaufgaben um und wie können jene Kompetenzen entwickelt werden, um diese Aufgabe in qualitätsvoller Weise zu bewältigen? Diesen Fragen soll mit einem empirischen Forschungsansatz der Aktionsforschung auf den Grund gegangen werden. Aktionsforschung wird hier als umfassende Strategie ver- standen, um die Fähigkeit und Fertigkeiten eines RE-Studierenden zu Handlungs- und Aktivitätskompetenz im Kontext der Praxis reifen zu lassen [Al10, S. 803ff]. Getragen von der Vorstellung professionellen Handelns trägt die Aktionsforschung implizit dazu bei, dass spezielles Wissen sowohl aus generellem Wissen als auch aus lokalem Wissen, welches durch situationsgerecht reflektierte Erfahrung erworben wurde, miteinander ver- bunden wird. Passend zur Untersuchungsfrage formulieren Praktiker und Praktikerinnen eine Fragestellung aus ihrer eigenen Praxis, die sie als bedeutsam für ihre Berufstätigkeit Copyright c 2014 for the individual papers by the papers’ authors. Copying permitted for private and academic purposes. This volume is published and copyrighted by its editors. 18 ansehen. Eine Folge dieser "Weltorientierung" ist, dass die Fragestellung in dieser Aktionsforschung interdisziplinär ist. Altrichter et al. weisen darauf hin, dass bei der Bearbeitung komplexer praktischer Situationen die Spezifität des Kontextes besondere Berücksichtigung erfordern [Al10, S. 805]. 2 Entwicklung einer Zuordnungscheckliste Ziel der Kompetenzanalyse ist die Entwicklung einer praxisgerechten Zuordnungs- Checkliste im Rahmen eines Lehr-Lernarrangements zur Sensibilisierung einer Kom- petenzentwicklung. 2.1 Quellen der Kompetenzorientierung Getrieben durch den Bologna-Prozess sollen Studienziele und (übergeordnete) Lernziele im Sinne von „Kompetenzprofilen“ möglichst strukturiert formuliert und präzise kommuniziert werden. Speziell für das Requirements Engineering als Teilbereich der Lehre von Software Engineering wird nach einem passenden Kompetenzrahmen gesucht. Einerseits sollen Fach- und Methodenkompetenzen so beschrieben sein, dass die jeweiligen Definitionen klar voneinander abgegrenzt werden. Andererseits stellt die Formulierung überfachlicher Kompetenzen eine große Herausforderung dar, die gerade für einen professionell ausgebildeten Requirements Engineer eine große Rolle spielt. Wirkungsweisen von Lehr-Lernarrangements sind detailliert zu dokumentieren und Selbstreflexion bei Lehrenden und Studierenden anzuregen. In diesem Konzeptionsprozess fand der Aufbau und die Verwendung eines Kompetenz- katalogs zur Bestimmung der Kompetenzorientierung Berücksichtigung. Es handelt sich dabei um ein Analyseergebnis der sogenannten Tuning-Studie [Be06], welches im Rahmen eines EU-Projekts 2008 veröffentlicht wurde. Zusätzliche Orientierung geben mehrere Business-Studien [Ja12], [Tr12], [Tr13]. Zum einen führte das EVELIN-Team [Ab12] eine Befragung von Unternehmen der Praxis durch und analysierte [Ja12] diese, um die Anforderungen an die Kompetenzen eines Software Engineers zu ermitteln. Zum anderen untersucht die Autorin die jährlich von trendence durchgeführte 100 TOP- Arbeitgeber-Umfrage [Tr12], [Tr13] nach Bewerberanforderungen und Wünschen von Arbeitgebern. Zudem wurden die veröffentlichten Forderungen des International Requirements Engineering Board (IREB) berücksichtigt [In13] und dessen explizit genannte Kompetenzen des Certified Professional for Requirements Engineering systematisiert [PR11]. In einer weiteren Studie mit einer Analyse von umfangreichen Stellenanzeigen wird zukünftig empirisch untermauert, was das bisherige Ergebnis anzeigt. 2.2 Zielorientierte Reduktion Zur Grundlage des gesamten Analysevorgangs wurde zunächst das Kompetenzmodell von Heyse und Erpenbeck [HE09] gewählt, das als eines der führenden Standards bezeichnet werden kann. Darin werden vier Kompetenzfelder mit 64 definierten Detailkompetenzen unterschieden. Sowohl die wissenschaftsbezogene Tuning- als auch 19 die praxisorientierten Business-Studien lassen sich sprachlich als auch inhaltlich in dieses Kompetenzmodell einordnen. Abbildung 1: Reduktionsergebnis Die Matrix haben wir wie folgt reduziert: Begriffsdefinition, Beschreibungsinhalte und Fördervorschläge geben Orientierung für eine Zuordnung, die in Abbildung 1 sichtbar wird. Stimmte entweder das Kriterium Begriffsgleichheit oder Übereinstimmung in Inhalt und Aussage überein, kam eine farbliche Überlagerung zustande. Mit dieser Zuordnungspraxis stellte sich eine Vergleichbarkeit der in den Studien genannten Kompetenzen ein. Die übrigen, nicht explizit genannten Begriffe wurden grau eingefärbt. Das Ergebnis zeigt Tabelle 1 in Verbindung mit Abbildung 1. Quelle Relevante Kompetenzen Tuning[Be06] Die Zuordnung der Tuning-Kompetenzinhalte und Business- Business-Studien Studie zu den Kompetenzfeldern von Heyse und Erpenbeck [Ja12] ergab in 39 von 64 Fällen eine Übereinstimmung, der Katalog (Farbe schwarz) von Heyse und Erpenbeck [HE09] somit entsprechend reduziert. trendence [Tr12], Einsatz- und Ausführungsbereitschaft sowie Akquisitionsstärke [Tr13] und soziales Engagement wird von den untersuchten (gelb eingefärbt) Arbeitgebern ausdrücklich gefordert. IREB [In13] Glaubwürdigkeit und Eigenverantwortung, Mobilität sowie (rosa eingefärbt) Marktkenntnisse werden im Praxiseinsatz verlangt. Tabelle 1: Erklärung Reduktionsergebnis 20 Der erhaltene Kompetenzkatalog wird nun für den Einsatz für Requirements Engineering als Teildisziplin des Software Engineering getestet. Es soll herausgefunden werden, ob sich dieser Kompetenzrahmen als Grundlage für eine Zuordnungscheckliste zur weiteren Kompetenzentwicklung eignet. Wünschenswertes Forschungsergebnis soll sein, die förderfähigen Kompetenzen je Lehr- und Lernarrangement erkennen und zuordnen zu können. Um einen höchstmöglichen Nutzen zu schaffen, werden von Requirements Engineers basierend auf gesammelter Praxisprojekterfahrung Kompetenzen aus dem reduzierten Katalog ausgewählt, die für die Auswahl und Zuordnung einer gewünschten Berufsaufgabe relevant sind. Es bedarf der genauen Analyse der Tätigkeitsfelder der Requirements Engineers. Dabei interessieren nicht nur die fachlichen und methodischen Kompetenzen, sondern auch die aus dem überfachlichen Erfahrungshintergrund gewonnenen Erkenntnisse der Requirements Engineer Experten/-innen [DD00], um die Integration fachlicher und überfachlicher Kompetenzen als Lernziele der Zukunft beschreiben und Realisierungsansätze bieten zu können. 2.3 Aufbau einer Zuordnungscheckliste im Experiment „World Café“ Die Zuordnungscheckliste soll von praxisrelevanten Basiskompetenzen für Requirements Engineers geprägt sein. Die Indikatoren werden durch Lehr-Lern- Experimente gewonnen. Zu Beginn dieses Aktionsforschungsprozesses wurde mit einem für Requirements Engineers grundlegendem Thema „Ethik der Softwareherstellung“ [So07] experimentell begonnen und als Lehr-Lernarrangement im seminaristischen Unterricht zum Software-Engineering angeboten. Mit der Moderationsmethode „World- Café“ [BI07] tauschen sich Studierende zu folgenden drei Prinzipien im gemeinsamen Gespräch bei quasi Kaffeehaus-Atmosphäre aus. Abbildung 2: Tischfragen zum Thema „Ethik der Softwareherstellung“ Dazu wurde außerdem eine Menükarte gefertigt, die über die Rahmenbedingungen zum World-Café informiert. Es wurden drei Thementische für je 6 – 8 Personen mit Pinwandpapier bedeckt und bunten Permanentmarkern bestückt. Zur entspannenden und motivierenden Atmosphäre trugen Getränke und Kaffee sowie Fingerfood bei. Je Tisch klärt ein/e Gastgeber/-in über die vorbereitete Fragestellung auf und motiviert die teil- nehmenden Gesprächspartner/-innen Ihre Gedanken, Ideen und Perspektiven, Erfah- rungen, Wünsche und Bedürfnisse zur Themenfrage auf die Tischdecke niederzuschrei- ben und durch Verbindungen miteinander in Beziehung zu setzen. Die Teilnehmer/- innen wechseln nach einem speziellen Rotationsverfahren den Tisch. Die Person in der Rolle „Gastgeber/-in“ bleibt jeweils zurück, weist die ankommenden Teilnehmer/-innen ein und motiviert zur Anknüpfung an die Ergebnisse der vorangegangenen Tischgruppe. 21 So kommt eine immer höhere kollektive Erkenntnisebene zustande. Im Nachgang des eigentlichen World-Cafés sollte das Gesprächsergebnis jeder teilnehmenden Gruppe selbstorganisiert zusammengefasst und mit konkreten Maßnahmen zur Umsetzung für die nächste Seminarstunde präsentiert werden. Die Vorbereitung, Durchführung und Aufbereitung der Ergebnisse sowie Evaluation des World-Cafés dienen pro Semester zur Datensammlung und werden mit diversen Forschungsmethoden analysiert. Planung und Handlung wurden nach dem Experiment reflektiert und daraus Konsequenzen abgeleitet, die Grundlage der nächsten Planung sind. Beispielsweise waren die Studierenden zu sehr von der Kaffeehaus-Atmosphäre überrascht. Die partizipative Veranstaltung fand zwar Anklang, überforderte aber auch einige Studierende. Der Impuls, ein „eigenes“ Ethikmanifest im Nachgang der Veranstaltung zu formulieren, blieb aus. Auch die geäußerten Wünsche zur Umsetzung informeller Events zur Kommunikationsverbesserung gingen nicht in Erfüllung. Daraus resultierte eine Einladung zum World-Café, ein verbindlicher Arbeitsauftrag bei Einführung durch die Gastgeber am Thementisch und die Erstellung eines Fragebogens zur papiergestützten Evaluation im unmittelbaren Nachgang der Veranstaltung mit Fragen zur Entwicklung der in Tabelle 2 dargestellten Kompetenzen. Handlungsstrategie für das Thema „Ethik der Softwareherstellung“ und Methode „World-Café“ verfolgt die konsequente Entwicklung und ständige Überarbeitung der durch Praxiserfahrung gewonnenen Zuordnungscheckliste zur Bestimmung des Lehrumfangs des Wissens- bausteins mit hohem Anspruch zur Selbstreflexion. Anforderungsgerecht werden die Kompetenzen für den situativen Kontext sukzessive dokumentiert, individuelle Einsichten auf ihre Brauchbarkeit und ihren Gültigkeitsbereich überprüft sowie Hinweise für deren Weiterentwicklung aufgenommen. An die in Tabelle 2 dargestellten Kompetenzen nach Heyse und Erpenbeck [HE09] knüpft die Zuordnungscheckliste an und liefert für Lehrende natürlich nur Empfehlungscharakter im Umfeld der Hochschul- didaktik bei gesetzlich fixierter Freiheit von Forschung und Lehre. Fach- und Fachwissen, Wissensorientierung, Organisationsfähigkeit, Methodenkompetenz Folgebewusstsein Personale Kompetenz Normativ-ethische Einstellung Lernbereitschaft, Selbstmanagement, Hilfsbereitschaft, Sozial-kommunikative Beziehungsmanagement, Verständnisbereitschaft, Kompetenz Teamfähigkeit, Problemlösungsfähigkeit Aktivitäts- und Soziales Engagement, Gestaltungswille, Handlungskompetenz Ausführungsbereitschaft, Zielorientiertes Handeln Tabelle 2: Zuordnungscheckliste Fazit: Damit die Methode „World Café“ ein nachhaltiges Ergebnis anzeigen kann, sollten die erarbeiteten Studierendenergebnisse zu einer nachweisbaren Maßnahme führen. Diese könnte sich in Form eines persönlichen Manifests widerspiegeln, das die Studierenden aus der Ethik-Diskussion für sich selbst mitnehmen. Dessen Wirkung würde im Verlauf des seminaristischen Unterrichts immer wieder nachgefragt. Der Dozierende regt im fach- und methodisch geprägten Lehr- und Lernarrangement zur persönlichen Reflexion über Werte an und motiviert zur Umsetzung der im gelungenen World-Café 22 gesammelten Erfahrungen. Der anschließende Dialog über das Potential in Bezug auf die personale und sozial-kommunikative Kompetenzentwicklung soll für den Weg zur Handlungs- und Aktivitätskompetenz sensibilisieren. Die konzipierte Zuordnungscheckliste lebt von der strukturierten Dokumentation und ständigen Adaption durch weitere Lehr- und Lernarrangements. Die vorliegende Arbeit wird aus Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung unter dem Förderkennzeichen 01PL12022C gefördert. Literaturverzeichnis [Ab12] Abke, J., et al: EVELIN. Ein Forschungsprojekt zur systematischen Verbesserung des Lernens von Software Engineering. In (MicroConsult, Hrsg.): Embedded Software Engineering Kongress. Sindelfingen, 2012; S. 653-658. [Al10] Altrichter, H.; Aichner, W.; Soukup-Altrichter, K.; Welte, H.: PraktikerInnen als ForscherInnen - Forschung und Entwicklung durch Aktionsforschung. In Handbuch Qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft, S. 801-818, Juventa. München, 2010. [Be06] Berendt, B.; Szczyrba, B.; Wildt, J.: Lehren und Lernen effizient gestalten. In (Raabe Hrsg.): Neues Handbuch der Hochschullehre, Loseblatt-Ausgabe, 2. Auflage, Stuttgart, 2006; A3.1., S. 6f. [BI07] Brown, J.; Isaacs, D.: Das World Cafe. Kreative Zukunftsgestaltung in Organisationen und Gesellschaft, 1. Aufl., Carl-Auer Verlag, Heidelberg, 2007. [DD00] Dreyfus, H.; Dreyfus, S.: Mind over Machine. The Power of Human Intuition and Expertise in the Era of the Computer. Fireside Books. New York, 2000. [HE09] Heyse, V.; Erpenbeck, J.: Kompetenztraining, Informations- und Trainingsprogramme, 2. Auflage, Schäfer Poeschel, Stuttgart, 2009. [In13] International Requirements Engineering Board, IREB: Certified Professional for Requirements Engineering – Elicitation and Consolidation. Advanced Level - Version 1.0., Ausgabe vom 20. Dezember 2012; S. 8ff. [Ja12] Janke, E.; Bartel, A.; Figas, P.; Brune, P.; Hagel, G.; Müller-Amthor, M.: Die Lehre von Software Engineering – eine Erhebung aus der Praxis. In (MicroConsult, Hrsg.): Embedded Software Engineering Kongress. Sindelfingen, 2012. [PR11] Pohl, K.; Rupp, C.: Basiswissen Requirements Engineering, Aus- und Weiterbildung zum Certified Professional For Requirements Engineering. Heidelberg, 2011; S. 15f. [So07] Sommerville, Ian: Software Engineering. Pearson Studium, Addison-Wesley Verlag, 8. Auflage, 2007. [Tr12] trendence (Hrsg.): Deutschlands 100 Top-Arbeitgeber. Möller Druck und Verlag, Berlin, 2012. [Tr13] trendence (Hrsg.): Deutschlands 100 Top-Arbeitgeber. Möller Druck und Verlag, Berlin, 2013. 23