Bestimmung relevanter Einflussfaktoren auf die Unsicherheit mini- malinvasiver Operationen am Beispiel der Otobasis Wissenschaftlicher Beitrag für die 11. CURAC Jahrestagung 2012 R. Schmitt¹, M. Nau¹, S.Pollmanns¹, S. Hansen², J. Schipper² ¹ RWTH Aachen, Lehrstuhl für Fertigungsmesstechnik und Qualitätsmanagement, Aachen, Germany ² Universitätsklinikum Düsseldorf, Hals-Nasen- und Ohrenklinik, Düsseldorf, Germany Kontakt: m.nau@wzl.rwth-aachen.de Abstract: Die Qualifizierung computerassistierter Chirurgie für minimalinvasive Eingriffe an der Otobasis ist das Ziel der DFG- geförderten Forschergruppe MUKNO (FOR1585). Eingriffe an der Otobasis können nur minimalinvasiv durchgeführt werden, wenn das Risiko für den Patienten vertretbar ist. Um dies zu quantifizieren, werden im ersten Schritt Faktoren erfasst und bewertet, die die Prozessunsicherheit von der Planung bis zur Durchführung der Operation beeinflussen. Hierzu werden Verfahren aus dem industriellen Qualitätsmanagement, wie die Fehlerbaumanalyse und die Risikoprio- ritätszahl, herangezogen. Für den definierten Prozess haben die Bildgebung und Bildverarbeitung sowie die Vorrich- tung zur Einstellung von Position und Orientierung des Bohrers den größten Einfluss. Darauf aufbauend können im nächsten Schritt die Unsicherheitsbeiträge dieser Faktoren ermittelt und Eignungskennwerte abgeleitet werden, was zur Quantifizierung des Risikos für den Patienten beiträgt. Schlüsselworte: Einflussfaktoren, Risiko, Unsicherheit, minimalinvasive Operation 1 Problem Die bildgeführte Navigation chirurgischer Eingriffe hat sich in den letzten Jahren in verschiedenen Bereichen der Hu- manmedizin erfolgreich etabliert. Forscher arbeiten derzeit daran, dieses Verfahren für weitere, hochpräzise Eingriffe zu qualifizieren. Mögliche Einsatzgebiete sind die Cochlear Implantation sowie die Probengewinnung und Entfernung sämtlicher Krankheitsprozesse der seitlichen Schädelbasis wie Tumore oder chronische Entzündungen. Weiterhin sind zukünftig auch Anwendungen denkbar, die zur Zeit noch experimentell sind, wie die Stammzelltherapie oder die Appli- kation von spezifischen Antikörpern, Nanopartikeln oder Wachstumsfaktoren für den Bereich der regenerativen Medi- zin. Bildgeführte, minimalinvasive Eingriffe an der Otobasis sind aktuell in klinisch experimentellen Untersuchungen nur als sog. single port möglich [1], etwa um die Cochlea für eine Cochlea-Implantation zu erreichen. In der konventionellen Chirurgie der Otobasis werden sämtliche sensiblen neurovaskulären Strukturen explorativ freigelegt, um diese dann über die visuelle Kontrolle des Operateurs schonen zu können. Bei allein navigationsgestützter Anlage von multiplen Bohr- kanälen ohne direkte Sichtkontrolle des Operateurs bedarf es einer umso exakteren Analyse möglicher Fehlerquellen, um eine Gefährdung sensibler Strukturen zu minimieren. Um solche Eingriffe in Zukunft minimalinvasiv durchführen zu können, muss sichergestellt sein, dass das Risiko für den einzelnen Patienten vertretbar ist. Das Risiko wird maßgeblich von den Unsicherheiten des Prozesses, von der Planung bis zur Durchführung der Operation, bestimmt. Voraussetzung für die Quantifizierung der Prozessunsicherheit und damit für die Quantifizierung des Risikos ist die Bestimmung und Bewertung von Einflussfaktoren auf den Prozess. So werden zum einen die Faktoren ermittelt, die die größten Beiträge zur Unsicherheit des Prozesses leisten, zum anderen können so aber auch Prozessrisiken identifiziert werden, die sich durch geeignete Maßnahmen reduzieren lassen. Für Medizinprodukte ist die Risikoanalyse zwingend vorgeschrieben. Basis dafür sind das Gesetz für Medizinprodukte (MPG) [2] und die DIN EN ISO 14971 [3]. Diese gelten somit auch für alle Hard- und Software zur medizinischen Na- vigation. Verschiedene Firmen bieten in diesem Bereich sogar Softwarelösungen an, die beim Risikomanagement unter- stützen. Eine Evaluierung verschiedener Produkte aus diesem Bereich präsentierten Machno et al. [4]. Der Fokus liegt 80 dabei aber auf dem Medizinprodukt, auch wenn der Übergang zwischen Produkt und Prozess bei der medizinischen Na- vigation fließend sein kann. In diesem Beitrag werden die Einflussfaktoren auf die Unsicherheit einzelner Prozessschritte betrachtet, mit dem Ziel, im nächsten Schritt die Unsicherheitsbeiträge der relevanten Einflussfaktoren auf den Operationsprozess nach messtech- nischen Standards zu bestimmen und daraus eine Aussage über die Eignung des Verfahrens und das Risiko für den Pati- enten abzuleiten. Für die Bewertung neuer Operationsverfahren gibt es in der Literatur unterschiedliche Ansätze, aber nur wenige berück- sichtigen den gesamten Prozess. McCulloch et al. [5] beschreiben eine 5-stufige Vorgehensweise zur Evaluierung chi- rurgischer Innovationen. Der Fokus liegt dabei aber auf der Etablierung neuer Operationsverfahren, also auf der Phase, in der das Verfahren schon angewendet wird. Hingegen kann die in diesem Beitrag beschriebene Vorgehensweise auch Grundlage für die Validierung der frühen experimentellen Phasen sein. 2 Methoden Im ersten Schritt wird der Prozess der Planung und Durchführung einer minimalinvasiven Operation an der Otobasis in einem interdisziplinären Expertenteam analysiert, indem eine angepasste Fehlerbaumanalyse, basierend auf der DIN 25424-1 [6], durchgeführt wird. Der in der Fehlerbaumanalyse betrachtete Prozess beinhaltet die folgenden Schritte: • Basierend auf der Diagnose erfolgt eine erste Abschätzung durch den behandelnden Arzt, ob der Patient für eine minimalinvasive Operation an der Otobasis in Frage kommt. • Ist dies der Fall, wird nach Beginn der Narkose eine Grundplatte mit Referenzstrukturen (Marker) am Schädel an- gebracht, woraufhin eine hochaufgelöste CT-Aufnahme folgt. • Die aufgenommenen CT-Daten fließen in eine Software, die die Datenverarbeitung, die Segmentierung definierter Kollisionsstrukturen und die Planung möglicher Bohrkanäle durchführt. • Die Übertragung der berechneten Parameter für die Bohrungen auf die OP-Situation erfolgt mithilfe der Referenz- strukturen am Schädel und einer mechanischen Vorrichtung. Die mechanische Vorrichtung verfügt über 2 Linear- und 2 Rotationsachsen. Sie wird mit der am Schädel fixierten Grundplatte verbunden und ermöglicht so die Einstel- lung von Position und Orientierung des Bohrers sowie dessen Führung. Die Einstellung der Parameter für Linear- und Rotationsachsen erfolgt manuell. • Der Fortschritt des Bohrprozesses kann punktuell mithilfe eines C-Bogens überwacht werden. Es erfolgt jedoch keine kontinuierliche Überwachung. • Sind die Kanäle angelegt, kann die eigentliche Versorgung des Patienten erfolgen. Es wird vorausgesetzt, dass der betrachtete Operationsprozess in steriler Umgebung, in einem gut ausgestatteten OP von geschultem Personal durchgeführt wird. Fehler, die aus der Missachtung dieser Grundsätze resultieren, werden im Fol- genden nicht betrachtet. Neben der Definition der betrachteten Prozessschritte muss auch der Fehlerbaumausgang, also das „unerwünschte Er- eignis“, festgelegt werden. Dieses ist für den betrachteten Fall eine nicht-erfolgreiche Operation, wobei eine Operation für diese Analyse schon als nicht-erfolgreich deklariert wird, wenn sie nicht analog der Planung verläuft, was bedeutet, dass entweder das Zielgebiet nicht erreicht wird, oder dass definierte Kollisionsstrukturen verletzt werden. Ereignisse, die dazu führen, werden in verschiedenen Ebenen des Fehlerbaums erfasst. Anschließend werden (in diesem Fall) die Fehler auf der 3. Ebene des Fehlerbaums vom Expertenteam bewertet. Bewertungskategorien sind die Bedeutung bzw. die Schwere des Fehlers (B), die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Fehler auftritt (A) und die Wahrscheinlichkeit, dass der Fehler erkannt wird (E). Für jede Kategorie werden 1 bis 10 Punkte vergeben. Diese Bewertungen sind die Grundlage zur Ermittlung der Risikoprioritätszahl (RPZ) nach DIN 60812 [7]. Die RPZ wird durch die Multiplikation der Werte für B, A und E berechnet. Mithilfe der Ergebnisse der Fehlerbaumanalyse und der RPZ werden die Faktoren ermittelt, die den größten Einfluss auf die Unsicherheit des Prozesses und somit auch den größten Beitrag zum Patientenrisiko haben. 81 3 Ergebnisse In der ersten Ebene des Fehlerbaums (Tabelle 1) wird als Ursache für eine nicht-erfolgreiche Operation zwischen einer fehlerhaften Planung und einer fehlerhaften Durchführung der Operation unterschieden. Eine fehlerhafte Durchführung kann bedingt sein durch die Positions- und Orientierungsabweichung der gebohrten von der geplanten Trajektorie oder durch eine Abweichung des Bohrungsdurchmessers. Eine fehlerhafte Planung kann dadurch bedingt sein, dass die Ab- standsreserve zu Kollisionsstrukturen zu klein ist oder dadurch, dass die in der Planungssoftware ausgewählte und reali- sierte Trajektorie nicht zum Zielgebiet führt. Die Fehlerursachen auf der dritten Ebene des Fehlerbaums sind vielfältig. Sie werden einzeln wie beschrieben bewertet, so dass aus dieser Bewertung die Risikoprioritätszahl ermittelt werden kann. Je höher die RPZ, desto höher ist das Risi- ko. Im Folgenden werden lediglich Faktoren betrachtet, die eine RPZ größer als 150 haben. Diese Faktoren lassen sich entweder der Bildgebung und Bildverarbeitung (z.B. fehlerhafte Erkennung von Kollisionsstrukturen/anatomischen Strukturen im CT) oder der mechanischen Vorrichtung zur Positionierung und Führung des Bohrers zuordnen. Risikopriori- 2. Ebene des Fehler- 3. Ebene des Fehlerbaums tätszahl RPZ baums falsche präoperative Positionierung der Grundplatte der mechani- Abweichung der rea- 10 schen Vorrichtung fehlerhafte Durchführung len von der berechne- Übertragungsfehler von Sollvorgaben aus der Planung (Winkel + ten Trajektorie Position können durch falsche Einstellung der Linear- und Rota- 60 (Position & Orientie- tionsachsen der mechanischen Vorrichtung abweichen) rung) Biegung der Bohrführung bei Kraftaufbringung 200 Erkennung des Verlaufs der Trajektorie im CT fehlerhaft (z.B. 160 Bestimmung einer falschen Orientierung der Trajektorie) Abweichung der rea- falscher Bohrdurchmesser verwendet 20 len von der berechne- zu großer Durchmesser der gebohrten Trajektorie durch Schwin- ten Trajektorie 18 gen des Bohrers (Durchmesser) Wahl eines zu geringen Vertrauensniveaus (k-Faktor) 10 Abstandsreserve zu unscharfes CT-Bild 18 Kollisionsstrukturen Registrierungsfehler (Abgleich virtuell – real) 250 ist nicht ausreichend Erkennung der Kollisionsstrukturen im CT fehlerhaft (z.B. Kolli- 270 sionsstrukturen sind größer, als sie im CT-Bild erscheinen) fehlerhafte Planung zeitliche Änderung des Patientenstatus (Arbeit auf veralteten Bilddaten, z.B. aufgrund von Tumorwachs- 6 tum) Auswahl falscher Trajektorien im Planungstool 1 Die ausgewählte Einstellung falscher Parameter in der OP-Planung Trajektorie führt nicht 10 (Bedienungsfehler) zum Ziel Erkennung anatomischer Strukturen im CT fehlerhaft (z.B. Fehler 270 bei der Positionsbestimmung anatomischer Strukturen) anatomische Strukturen fehlerhaft dargestellt 5 (z.B. durch Glättung) Tabelle 1: Zusammenfassung der Ebenen 1 bis 3 des Fehlerbaums mit der Bewertung der 3. Ebene anhand der Risikoprioritätszahl 4 Diskussion Zur Bestimmung relevanter Einflussfaktoren auf die Unsicherheit minimalinvasiver Operationen an der Otobasis wurden Vorgehensweisen aus dem industriellen Qualitätsmanagement herangezogen und angepasst. Die Fehlerbaumanalyse „dient der systematischen Suche nach denkbaren Ursachen für einen vorgegebenen Fehler“ [6] und wird z.B. in der Entwicklung komplexer Produkte eingesetzt, um Ausfallkombinationen, also die Ursachen für den Ausfall eines techni- schen Systems, zu bestimmen [8]. Die Fehlerbaumanalyse wird daher auch im Rahmen des Risikomanagements für Me- dizinprodukte eingesetzt. 82 Hier wurde dieses Verfahren auf den Prozess der Operationsplanung und -durchführung für minimalinvasive Operatio- nen an der Otobasis übertragen. Die systematische Vorgehensweise eignet sich jedoch auch hier, da das Ziel darin be- steht, frühzeitig potentielle Komplikationen vorherzusagen, indem Ursachen für eine nicht-erfolgreiche Operation iden- tifiziert werden. So besteht die Möglichkeit, Risikofaktoren zu reduzieren und die Patientensicherheit zu verbessern. Limitiert werden die Ergebnisse durch die vorangegangene Definition des betrachteten Prozesses und die beschriebenen Randbedingungen, also der Eingrenzung des Betrachtungsraums. Außerdem spielt die Detaillierungsebene der Fehler- baumanalyse eine wichtige Rolle. Aufgrund der Komplexität des Prozesses wurde die dritte Ebene für die Bewertung gewählt, da diese schon Unterschiede in den Ursachen aufzeigt, aber auch eine Gruppierung der Faktoren zulässt. Die durchgeführte Bewertung der Einflussfaktoren basiert auf DIN 60812 [7], wobei für die Bewertungskategorien Ska- len von 1 bis 10 verwendet werden. Die Bewertung erfolgt auf Basis des Erfahrungswissens der beteiligten Experten, was beinhaltet, dass diese Bewertung zum Teil subjektiv ist. Da die Bewertung aber von mehreren Medizinern, Informa- tikern und Ingenieuren zusammen durchgeführt wurde, wird die subjektive Sicht des Einzelnen relativiert. Es konnte gezeigt werden, dass sich die angewandte Vorgehensweise eignet um relevante Faktoren zu identifizieren, die einen Einfluss auf das Risiko minimalinvasiver Operationen an der Otobasis haben. Die gewählte normbasierte Vorge- hensweise und eine Standardisierung von Prozeduren tragen weiter zur Verbesserung der Patientensicherheit bei. Im nächsten Schritt werden die Unsicherheitsbeiträge der als relevant identifizierten Faktoren bestimmt, um das Risiko für den Patienten zu quantifizieren. Verfahren und Vorgehensweisen zur Unsicherheitsbestimmung sind in geltenden Normen der Messtechnik, wie z.B. der ISO 98-3 [9] oder der DIN EN ISO 15530-3 [10], beschrieben. Auch zur Be- stimmung der Prozesseignung gibt es in der Mess- und Produktionstechnik zahlreiche Verfahren, wie z.B. die Bestim- mung von Fähigkeitskennwerten nach ISO 22514-7 [11]. Diese Untersuchungen der Unsicherheitsbeiträge und die Be- stimmung geeigneter Kennzahlen sind Bestandteil folgender Forschungsarbeiten. 5 Referenzen [1] J.M. Fitzpatrick, J.B. West, C.R. Maurer, Predicting error in rigid-body point-based registration, In: IEEE Transac- tions on Medical Imaging, Vol.17, No.5, 1998. [2] Bundesministerium der Justiz, Gesetz für Medizinprodukte (Medizinproduktegesetz MPG), 2011. [3] Deutsches Institut für Normung, DIN EN ISO 14971, Medizinprodukte – Anwendung des Risikomanagements für Medizinprodukte, Beuth, Berlin, 2009. [4] A. Machno et al., Evaluierung von Risikomanagementtools für die Analyse der Mensch-Maschine- Interaktion in der computerassistierten Chirurgie, In: Biomed Tech, Vol.55, Suppl.1, 2010. [5] P. McCulloch et al., No surgical innovation without evaluation: the IDEAL recommendations, In: Lancet, Vol.374, 2009. [6] Deutsches Institut für Normung, DIN 25424-1, Fehlerbaumanalyse, Beuth, Berlin, 1981. [7] Deutsches Institut für Normung, DIN 60812, Analysetechniken für die Funktionsfähigkeit von Systemen - Verfah- ren für die Fehlzustandsart- und -auswirkungsanalyse (FMEA), Beuth Verlag GmbH, Berlin, 2006 [8] R. Schmitt, T. Pfeifer, Qualitätsmanagement. Strategien, Methoden, Techniken, 4th ed., Carl Hanser Fachbuchver- lag, 2010 [9] International Organization for Standardization, ISO 98-3, Uncertainty of measurement - Part 3: Guide to the ex- pression of uncertainty in measurement (GUM: 1995), Geneva [10] Deutsches Institut für Normung, DIN EN ISO 15530-3, Geometrische Produktspezifikation und -prüfung (GPS) - Verfahren zur Ermittlung der Messunsicherheit von Koordinatenmessgeräten (KMG) - Teil 3: Anwendung von ka- librierten Werkstücken und Normalen, Beuth Verlag GmbH, Berlin, 2012 [11] International Organization for Standardization, ISO 22514-7, Statistical methods in process management - Capa- bility and performance - Part 7: Capability of measurement processes, Beuth Verlag GmbH, 2010 83