=Paper= {{Paper |id=Vol-2542/MOHOL6 |storemode=property |title=Digitale Zwillinge modellieren und verstehen: Eine Fallstudie zum problembasierten und forschenden Lernen (Modeling and Understanding Digital Twins: A Case Study of Problem-Based and Exploratory Learning) |pdfUrl=https://ceur-ws.org/Vol-2542/MOHOL6.pdf |volume=Vol-2542 |authors=Carlo Simon,Stefan Haag |dblpUrl=https://dblp.org/rec/conf/modellierung/SimonH20 }} ==Digitale Zwillinge modellieren und verstehen: Eine Fallstudie zum problembasierten und forschenden Lernen (Modeling and Understanding Digital Twins: A Case Study of Problem-Based and Exploratory Learning)== https://ceur-ws.org/Vol-2542/MOHOL6.pdf
     Joint Proceedings of Modellierung 2020 Short, Workshop and Tools & Demo Papers
                               Workshop zur Modellierung in der Hochschullehre 101


Digitale Zwillinge modellieren und verstehen

Eine Fallstudie zum problembasierten und forschenden Lernen


Carlo Simon,1 Stefan Haag1



Abstract: Mit der Digitalisierung von Produkten, Produktionsprozessen und Dienstleistungen nimmt
deren inhärente Komplexität zu. Diese beruht auf dem Umstand, dass parallel zum realen physischen
Produkt eine virtuelle Instanz existiert, in der mittels Algorithmen Optimierungen gefunden, oder
durch die reale Artefakte und Prozesse verknüpft und aufeinander abgestimmt werden. In diesem
Zusammenhang spricht man dann auch von Cyber-Physical Systems. Deren virtueller Anteil ist der
digitale Zwilling zur Realität.

Die Modellierung digitaler Zwillinge ist eine anspruchsvolle Tätigkeit, da nicht nur deren statische
Struktur sondern auch ihr dynamisches Verhalten abzubilden ist. Hinzu kommt, dass virtuelle
Zwillinge oftmals unterschiedlichste Anwendungsdomänen umfassen: So reicht ein End to End
gedachter Auftragsabwicklungsprozess von der Geschäftsprozessebene bis zur Produktionsebene und
anschließend wieder zurück auf die Ebene der Geschäftsprozesse.

Als abstrahierende Modellierungssprache können Petri-Netze hier einen signifikanten Beitrag leisten,
unterschiedliche Anwendungsdomänen und Abstraktionsebenen miteinander zu verbinden. Um dies
erlebbar zu machen, wurde eine Fallstudie entwickelt, bei der Studierende geleitet durch das Konzept
des problembasierten bzw. forschenden Lernens mit einem webbasierten Petri-Netz-Werkzeug Abläufe
modellieren, simulieren und in einer Produktionsstrecke ausführen. Es wird zudem dargestellt, wie
diese Methode einen erweiterten Kompetenzerwerb jenseits des reinen Wissenserwerbs ermöglicht.

Keywords: Problembasiertes und forschendes Lernen; Cyber-Physical Systems; Digitale Zwillinge;
Petri-Netze; Prozessmanagement



1    Motivation zur dargestellten Fallstudie

In der Hochschullehre nimmt die Kompetenzorientierung eine zunehmend wichtige Rolle
ein und ergänzt das faktenbasierte Wissen. Studierende lernen, in Teams komplexe Auf-
gabenstellungen selbst zu erkennen, zu erfassen und zu strukturieren, sowie Lösungen
gegeneinander abzuwägen, diese umzusetzen und ihre Ergebnisse zu präsentieren. Am Ende
solcher Lernprozesse, die sich damit an den Phasen des forschenden Lehrens orientieren,
steht eine Selbstreflexion. Zur Vermittlung einer so umfangreichen Lehrerfahrung bieten sich
Aufgabenstellungen signifikanter Größenordnung an, welche sich gleichzeitig klassischen
Lehrformaten eher verschließen.
1 HS Worms, FB Informatik, Erenburgerstr. 19, 67549 Worms, Deutschland, {simon,haag}@hs-worms.de




Copyright © 2020 for this paper by its authors.
Use permitted under Creative Commons License Attribution 4.0 International (CC BY 4.0).
102 Carlo Simon, Stefan Haag

Spannende und hochaktuelle Aufgabenstellungen ergeben sich aus der derzeit intensiv
diskutierten Digitalisierung von Produkten, Produktions- und Dienstleistungsprozessen.
Vor diesem Hintergrund steht im Zentrum der hier vorgestellten Fallstudie die Modellierung
digitaler Zwillinge von Produktionsprozessen. Diese eignen sich hervorragend, um die
Herausforderungen und die Komplexität der Digitalisierung anschaulich begreifbar zu ma-
chen. Hierzu sind neben der Modellerstellung auch die Modellausführung zu thematisieren,
etwa in einer (miniaturisierten) Produktionsumgebung. Letzteres dient der unmittelbaren
Überprüfung der erstellten Modelle.
Eine Hürde bei der Vermittlung des Themas „Modellierung digitaler Zwillinge“ stellt
die hohe Anzahl von Modellierungssprachen dar, die für die jeweiligen Ebenen der
Automatisierungspyramide gemäß Abb. 1 zum Einsatz kommen. Auf Ebene der ERP-
Systeme bzw. dem Topfloor-Level handelt es sich um Sprachen für Geschäftsprozesse wie
BPMN oder EPK. Auf der gegenüberliegenden Seite der Automatisierungspyramide, also
auf der Steuerungsebene und dem Shopfloor-Level, kommen hingegen etwa mit Ladder-
Diagrammen Sprachen zum Einsatz, die logische Zusammenhänge zwischen Sensoren und
Aktoren abbilden. Die Aufzählung der verwendeten Sprachen ist damit noch längst nicht
abgeschlossen und die Vermittlung all dieser Modellierungssprachen wäre so zeitintensiv,
dass für praktisches Ausprobieren und kompetenzorientiertes Lernen innerhalb eines
Semesters keine Zeit bliebe.
                                                                   Unternehmensebene
          Level 5                       ERP                                 (Topfloor)


          Level 4                       MES                             Betriebsebene


          Level 3                   HMI / SCADA                    (Prozess-)Leitebene


          Level 2                       SPS                          Steuerungsebene

                                     Feldgeräte:                            Feldebene
          Level 1
                      Ein- / Ausgangssignale, Aktoren / Sensoren           (Shopfloor)

                            Fertigung / Produktionsprozess
          Level 0                                                        Prozessebene
                                    (RFID-Chips)


               Abb. 1: Automatisierungspyramide in Anlehnung an [Si16, S. 49]

Tatsächlich gibt es aber mit Petri-Netzen schon lange eine etablierte und gut verstandene
Modellierungssprache, für die zahlreiche Anwendungsbeispiele auf den unterschiedlichen
Ebenen der Automatisierungspyramide existieren und die aufgrund der inhärenten Semantik
zudem simulierbar sind. Dadurch lässt sich die Zahl der Modellierungssprachen mit Blick
auf die eigentlichen Prozesse auf Eins reduzieren. Flankierend hierzu können aber noch
                                           Digitale Zwillinge modellieren und verstehen 103

Modellierungssprachen für Datenmodelle und Organigramme zur Anwendung kommen, so
wie man diese auch bei erweiterten EPK mit den eigentlichen Prozessmodellen verknüpft.
Prozesslandkarten können wiederum verwendet werden, um eine Verbindung zwischen den
Prozessmodellen abzubilden.
Ein neuartiges Petri-Netz-Modellierungswerkzeug, welches diese verschiedenen Sichten
auf Systeme abzubilden gestattet, wird derzeit im Kontext der Hochschule Worms entwi-
ckelt. Die Kombination der folgenden Merkmale hebt es von bisherigen Entwicklungen
ab: Als WebApp ist es verteilt einsetzbar und kann auch auf mobilen Endgeräten wie
Tablets genutzt werden; aufgrund der Unterstützung von höheren Datentypen innerhalb der
Petri-Netz-Modelle lassen sich nicht nur abstrakte Prozessmodelle, sondern auch die vom
Prozess gesteuerten Datenflüsse simulieren; Organigramme ermöglichen die Abbildung
von Aufbauorganisationen, etwa einer Unternehmenshierarchie, wodurch die Bestandteile
der Petri-Netze Organisationseinheiten zugeordnet und innerhalb von Swimlanes dargestellt
werden können; durch umfangreiche Zeit-Datentypen können insbesondere zeitkritische
Produktionsabläufe visualisiert und Engpässe in der Produktion detektiert werden; schließ-
lich können die Modelle auch im Browser eines Raspberry Pi ausgeführt werden, was eine
Interaktion mit einer echten Produktionsstrecke über dessen GPIO-Schnittstelle erlaubt.

Die Erprobung dieses Werkzeugs erfolgt im Rahmen zweier Vorlesungen im Bachelor und
im Master Wirtschaftsinformatik an der Hochschule Worms; die gesammelten Erfahrungen
fließen in die weiteren Entwicklungsschritte ein. Die Studierenden partizipieren so unmit-
telbar an aktuellen Forschungsergebnissen und erhalten Einblick in Research in Progress.
Zum forschenden Lernen wird diese Methode aber erst durch Entwicklungsprojekte, die die
Studierenden in Teams unter Verwendung des Tools umsetzen. Die konkrete Durchführung
wird im Folgenden genauer beschrieben.
Im zweiten Abschnitt wird eine kurze Einführung zum Komplex des forschenden Lernens
und der Differenzierung zwischen diesem und dem problembasierten Lernen gegeben.
Ferner wird aufgezeigt, wie diese Lernformen in der Informatik angewendet werden können.
Das dritte Kapitel erklärt das Konzept digitaler Zwillinge, deren Verzahnungen mit realen
Wertschöpfungsketten und beschreibt die (bewusst) minimalistische Produktionsumgebung,
die im Rahmen der Lehrveranstaltung verwendet wird. Das vierte Kapitel beschreibt die kon-
krete Durchführung der Fallstudie, ehe die Ergebnisse im fünften Kapitel zusammengefasst
werden.


2   Problembasiertes und forschendes Lernen

Liegt in der inhaltsbasierten Lehre der Fokus hauptsächlich auf einer theoretischen Wis-
sensvermittlung, so zielt eine kompetenzorientierte Lehre darauf ab, dass die Lernenden
das theoretisch vermittelte Wissen auch praktisch umsetzen können und Problemlösungsfä-
higkeiten erwerben. Dies wird durch interaktive Übungsformen praktiziert.
104 Carlo Simon, Stefan Haag

Forschendes Lernen ist eine Ausprägung dieses Lernprozesses. Nach [Hu09, S. 11] gestalten
die Lernenden hierbei einen Forschungsprozess in seinen wesentlichen Phasen mit, erfahren
diesen hierdurch und reflektieren ihn schließlich. Ein für Dritte interessantes Ergebnis moti-
viert die Lernenden idealerweise zusätzlich. Tatsächlich entspricht dies dem Humboldtschen
Ideal, nach dem Hochschullehrer eher als Mentoren für eigenständig forschende Studierende
denn als Lektoren agieren sollten (cf. [vH02, S. 169f]).

In der Hochschullehre findet forschendes Lernen eine zunehmende Beachtung. Neben einzel-
nen Modulen, die in dieser Lehrform angeboten werden2, zeugen davon Denkschriften, wie
das Hohenheimer Memorandum zum forschenden Lernen [Bl19], hochschulübergreifende
Projekte, wie eine Studie der TH Köln mit den Projektpartnern FH Potsdam, HU Berlin
und LMU München [Go19] oder das Symposium „Forschendes Lernen oder Lernendes
Forschen“ der GU Frankfurt [Ho19].
Forschendes Lernen ist ein iterativer Prozess, der gemäß [Hu09] mit der Wahrnehmung
eines Ausgangsproblems beginnt. Ausgehend von einer verbesserungsfähigen Situation
werden Forschungsfragen formuliert. Anschließend wird zum Kontext notwendiges Wissen
erarbeitet, etwa in Form einer Literaturrecherche. Sobald genügend Kenntnisse vorhanden
sind, um Folgen und Aufwand abschätzen zu können, werden Methoden gesucht oder
entwickelt, um die Fragestellung bearbeiten zu können. Daraufhin wird das Vorgehen
entworfen, nach dem die Forschung durchgeführt werden soll. Nach der Umsetzung dieses
Vorgehens werden die Ergebnisse gesammelt, aufbereitet und präsentiert. Schließlich wird
der gesamte Prozess mit dem Ziel reflektiert, ihn in einer nächsten Iteration besser zu
gestalten. Typischerweise ergibt sich aus den Ergebnissen eine neue Aufgabe oder ein
weiterer Fragenkomplex. Der in Abb. 2 dargestellte Prozess kann iterativ und auch in sich
selbst ablaufen: Teilprobleme können ebenfalls mit diesem Vorgehen bearbeitet werden.
   1.Problem wahr-   2. Fragestellung finden   3. Theoretischen     4. Methoden aus-
 nehmen (Hinführung)                         Grundlagen erarbeiten wählen und aneignen




         8. Gesamten Prozess           7. Ergebnisse            6. Forschende          5. Forschungsdesign
              reflektieren              präsentieren         Tätigkeit durchführen          entwickeln


                 Abb. 2: Prozess des forschenden Lernens in Anlehnung an [Hu09]3
2 Beispiele hierfür sind das Modul „Projektmanagement / Teamorientiertes Projekt“ der Technischen Hochschule
  Ulm [Ul19, S. 23] oder das Modul „Projektmanagement und Teamorientiertes Projekt“ der Hochschule Worms
  [Wo19, S. 52ff]
3 Grafiken adaptiert von M. Sonntag, J. Rueß, C. Ebert, K. Friederici, W. Deicke, CC BY-SA 4.0 [So16, S. 14]
                                                     Digitale Zwillinge modellieren und verstehen 105

Während in Master-Studiengängen die Methodik des forschenden Lernens unmittelbar
angewendet werden kann, ist dies insbesondere in frühen Semestern eines Bachelor-
Studiums nicht möglich. Hier hat sich aber ein verkürzter Prozess gemäß Abbildung
Abb. 3 bewährt. Dabei steht die Wissensvermittlung im Rahmen einer Vorlesung am
Anfang, woraufhin eine komplexere Aufgabenstellung vergeben wird. Aufbauend auf dem
vermittelten Wissen ist dann eine Lösungsstrategie zu entwickeln, die praktisch anzuwenden
ist. Eine Ergebnispräsentation bildet den Abschluss der zu bearbeitenden Aufgabenstellung.
Eine Reflexion schließt den gesamten Lernprozess ab.
               1. Theoretische         2. Aufgabenstellung        3. Lösungsstrategie
              Grundlagen lernen             annehmen                   entwickeln




                         6. Lernprozess            5. Ergebnisse          4. Theorie praktisch
                           reflektieren            präsentieren                anwenden


                 Abb. 3: Prozess des problembasierten Lernens (eigene Darstellung)4

Der Übergang zwischen diesen Lehrformen ist fließend und kann an die bereits vorhandenen
Kompetenzen der Studierenden angepasst werden. [MW18, S. 10f]


3    Digitale Zwillinge in der Lehre

Die Integration betrieblicher Informationssysteme ist eines der zentralen Themen der
Wirtschaftsinformatik. Diese erfolgt entlang der Geschäfts- und Produktionsprozesse und
schließt deren zugrundeliegende Daten und Schnittstellen ein. Ziel ist es dabei, den Infor-
mationsfluss zwischen den verschiedenen Systemen zu ermöglichen und zu automatisieren,
um aus der Verknüpfung Optimierungspotenziale zu heben. Überschreiten die integrierten
Prozesse die Unternehmensgrenzen, dann spricht man von horizontaler Integration. Verbin-
det man hierbei Informationssysteme gemäß der Ebenen der Automatisierungspyramide,
dann spricht man von vertikaler Integration. Abb. 4 veranschaulicht diese Zusammenhänge.

Mit der aktuellen Diskussion um Digitalisierung, Industrie 4.0 und dem Internet der Dinge
erweitert sich der Horizont für eine mögliche Integration um die reale Welt. Während
sich die Automatisierungstechnik schon lange mit der Verknüpfung von Steuergeräten mit
Produktionsstrecken beschäftigt, und somit um eine Verknüpfung von Systemen auf dem
4 Grafiken adaptiert von M. Sonntag, J. Rueß, C. Ebert, K. Friederici, W. Deicke, CC BY-SA 4.0 [So16, S. 14]
106 Carlo Simon, Stefan Haag


                                                Horizontale Integration




                                                        Topfloor
       Vertikale Integration




                               Lieferant                                          Kunde




                                                       Shopfloor

                                           Integrierter Informationsaustausch



Abb. 4: Informationsflüsse nach erfolgter horizontaler und vertikaler Integration in Anlehnung an
[HS19, S. 284]


Shopfloor mit denen der Steuerungsebene, geht es nun um eine Verknüpfung der realen
Welt mit allen Ebenen gemäß der Automatisierungspyramide.
Gleich zwei Gründe sprechen für die Modellierung solcher Systeme. (1) Aufgrund der
hohen Komplexität durch die Vernetzung sind Modelle für ein Verständnis der integrierten
Systeme notwendig, da diese die menschliche Vorstellungskraft sprengen. (2) Die Modelle
selbst sind zudem Teil des integrierten Systems, da das virtuelle Abbild genutzt wird, um
mögliche Handlungsalternativen zu testen, ehe diese in der Realität umgesetzt werden.
Daraus ergibt sich die folgende, zentrale Aufgabenstellung zur Modellierung von digitalen
Zwillingen für Fallstudien in der Lehre:

      Entwickle ein ganzheitliches, integriertes Modell eines Unternehmens gemäß
      der Automatisierungspyramide, verknüpfe es mit der Realität und steuere die
      Realität über das Modell!

Um diese Aufgabenstellung im Rahmen der Ausbildung von Studierenden der Wirtschafts-
informatik zu ermöglichen, sind zwei wichtige Punkte zu beachten:

1.    Die zu steuernde (modellhafte) Produktionsanlage muss so einfach wie möglich
      sein, damit nicht das eigentliche Modellierungs- und Integrationsproblem durch
      die technischen Herausforderungen einer echten Produktionsanlage überlagert wird.
                                              Digitale Zwillinge modellieren und verstehen 107

      Letztgenannte Herausforderung wäre eine Aufgabenstellung für Studierende der
      Automatisierungstechnik.
2.    Es muss die Möglichkeit bestehen, die zu entwickelnden Modelle softwaretechnisch
      umzusetzen, idealerweise integriert innerhalb einer Anwendung. Ferner muss das
      Modellierungswerkzeug mit der realen Außenwelt interagieren können. Dabei müssen
      in den Modellen auch nicht-physische Konzepte abgebildet werden wie beispielsweise
      Rechnungen, die heute bereits häufig in rein digitaler Form vorliegen.

Um einen realen Produktionsprozess zu simulieren, wird in der hier vorgestellten Fallstudie
die in Abb. 5 gezeigte erweiterte Fischertechnikanlage genutzt, die aufgrund ihres kleinen
Formats etwa in PC-Pools an vorhandene Arbeitsplätze angeschlossen werden kann. Die
Anschaffungskosten betragen unter 200 Euro, was es erleichtert, auch eine größere Anzahl
von Studierenden damit auszustatten. Die Anlagen bestehen je aus einem Fließband, das
vor- und zurücklaufen kann, sowie einer Stanzeinheit an einem Ende. Lichtschranken an
beiden Enden des Fließbands detektieren, wenn ein Werkstück eine Endposition erreicht hat.
Mittels Kontaktsensor kann die Anzahl der Stanzvorgänge gezählt werden. Zur Steuerung
der Anlage ist ein Raspberry Pi verbaut, der die Motoren indirekt über Relais schalten kann.




              Abb. 5: Fischertechnikmodell als realer Zwilling (eigene Abbildung)

Die Grundzüge eines digitalen Zwillings sollen nun dadurch abgebildet werden, dass in
einem Modell auf Ebene der Geschäftsprozesse das Abarbeiten von Kundenbestellungen
simuliert wird. Diese unterscheiden sich hinsichtlich der Zahl der Stanzvorgänge. Wird ein
solcher Auftrag bearbeitet, wird er an das Modell der Produktionsebene weitergereicht und
dort, nachdem ein Werkstück in die Produktionsanlage eingelegt worden ist, gemäß des
Kundenwunsches bearbeitet.
108 Carlo Simon, Stefan Haag

Für Modellbildung und -ausführung wird die neu im Kontext der Hochschule Worms
entwickelte Petri-Netz-WebApp ProcessBase verwendet. Dass diese geeignet ist, die gestellte
Aufgabe zu lösen, wurde bereits im Rahmen von Veröffentlichungen demonstriert (cf. [SH18]
und [HS19]).
Für Bachelor-Studierende im dritten Fachsemester sieht die Aufgabenstellung vor, gegebene
Bestellungen unter Berücksichtigung der Kundenpriorisierung, begrenztem Zeitbudget
und Varianten auf der Modellanlage zu produzieren. Neben der allgemeinen Modellie-
rungskompetenz werden zusätzlich unterschiedliche Strategien zur Reihenfolgeplanung
angewendet und verstanden. Im Rahmen des problembasierten Lernens sind somit sowohl
Problemstellung als auch anzuwendende Methodik vorgegeben.

Dem gegenüber ist der Ansatz auf Masterniveau deutlich freier. Hier sollen die Studierenden
zunächst ohne Vorgabe einer Modellierungsmethodik einen verketten Produktionsprozess
wie in Abb. 6 gezeigt modellieren. Variieren in der Strecke die Bearbeitungszeiten der unter-
schiedlichen Arbeitsstationen, lassen sich mittels Simulation Engpässe gemäß der Theory
of Constraints beobachten (cf. [GC10]). Abgeleitet hiervon formulieren die Studierenden
Anforderungen an eine Modellierungssprache, die nicht nur diesen Produktionsprozess,
sondern auch dessen übergeordneten administrativen Prozess abzubilden gestattet. Als
mögliche Instanz hierfür werden dann Petri-Netze eingeführt und in die Aufgabenstellung
übergeleitet, die adaptiert auch von den Bachelor-Studierenden bearbeitet wird.

                                        Deutlicher Engpass in der Produktion



      !          "       !       #           !          #          !             %         !     &          !
     Eingang   Planung       Vorproduktion          Produktion                 Abfuellen       Kontrolle   Ausgang


                         !       $                     !                                                    !
                         Behälter vorbereiten                                                               Abfall


Abb. 6: Darstellung eines verketten Produktionsprozesses (eigene Abbildung; Bildschirmfoto aus der
verwendeten Simulationsumgebung)

In beiden Lernszenarien (Bachelor und Master) werden abschließend die Ergebnisse
präsentiert und die durchlaufenen Prozesse reflektiert.


4    Bearbeitung der Fallstudie durch die Studierenden

Die im Folgenden beschriebene problembasierte Bearbeitung der Fallstudie erfolgt im Rah-
men einer Vorlesung „Geschäftsprozessmanagement“ für Bachelor Wirtschaftsinformatik
im dritten Semester; die forschende Bearbeitung erfolgt im Rahmen einer Vorlesung „Pro-
zessmanagement“ für Master Wirtschaftsinformatik des ersten Semester. Auch wenn sich
die Aufgabenstellung in Teilen ähnelt, unterscheiden sich die Lernziele und der angestrebte
Kompetenzerwerb wesentlich.
                                            Digitale Zwillinge modellieren und verstehen 109

4.1   Problembasiertes Lernen anhand der Fallstudie

Durch problembasiertes Lernen sollen die Studierenden - in Gruppen von drei bis vier
Personen - erworbenes theoretisches Wissen auf Problemstellungen anwenden, mit denen
sie auch in einem (ersten) beruflichen Alltag konfrontiert werden könnten.

1. Theoretische Grundlagen lernen Im Rahmen der Vorlesung erlernen die Studierenden
      Sprachen für Geschäftsprozesse wie eEPK, BPMN sowie Petri-Netze und erhalten
      eine Einführung in die Benutzung der WebApp. Ferner wird die GPIO-Schnittstelle
      des Raspberry Pi erklärt, über den dieser mit der Produktionsanlage kommuniziert.
2. Aufgabenstellung annehmen Sobald die Grundlagen geschaffen sind, wird die Model-
      lierungsaufgabe präzisiert. Die zentrale, in Abschnitt 3 formulierte Aufgabenstellung
      für forschendes Lernen wird hierzu wie folgt umformuliert:

            Entwickle zwei miteinander gekoppelte Petri-Netz-Modelle zur Auftrags-
            bearbeitung auf Geschäfts- und Produktionsebene und demonstriere
            deren Funktionalität anhand der modellhaften Produktionsstraße.

3. Lösungsstrategie entwickeln Die Studierenden sollen erkennen, welche theoretischen
      Grundlagen einen Beitrag zu Lösung ihrer Aufgabe leisten können und ein Vorge-
      hensmodell entwickeln, wie und in welcher Reihenfolge diese anzuwenden sind.
4. Theorie praktisch anwenden Die Theorie wird in den folgenden Schritten umgesetzt:
      1.    Modelliere einen Auftragsbearbeitungsprozess
      2.    Importiere Aufträge aus einer CSV-Datei und simuliere den modellierten
            Prozess unter Verwendung der importierten Auftragsdaten
      3.    Erstelle ein Petri-Netz-Modell, um die Sensoren und Aktoren der modellhaften
            Produktionsstraße zu testen
      4.    Modelliere einen variablen Produktionsprozess, bei dem die Anzahl der Stanz-
            vorgänge als Parameter übergeben wird
      5.    Verknüpfe Auftragsabwicklungsprozess und Produktionsprozess

      Abweichende Lösungsstrategien der Studierenden werden dabei berücksichtigt.
5. Ergebnisse präsentieren Die Gruppen dokumentieren ihre jeweiligen Lösungsstrate-
      gien sowie die gewählte Umsetzung und präsentieren ihr Ergebnis im Rahmen der
      Veranstaltung. Hierbei zeigt sich, dass trotz des minimalistischen Beispiels und der
      vergleichsweise eingeengten Aufgabenstellung viele Lösungen möglich sind, die sich
     - für die Lernenden häufig überraschend - deutlich voneinander unterscheiden können.
6. Lernprozess reflektieren Zum Semesterabschluss erhalten die Studierenden die Gele-
      genheit, den gesamten Lernprozess zu reflektieren und für sich zu verbessern.
110 Carlo Simon, Stefan Haag

4.2   Forschendes Lernen anhand der Fallstudie

Am Fachbereich Informatik der Hochschule Worms wird forschendes Lernen verfolgt,
um Studierenden eine selbstkritische, Fragen entwickelnde, mithin forschende Haltung
zu vermitteln. In der vorgestellten Fallstudie wird dies erreicht, indem die Studierenden
die Aufgabenstellung als Themengebiet in der Wirtschaftsinformatik verorten und For-
schungsfragen formulieren, die sie mit Blick auf die Fallstudie einnehmen wollen. Auch im
Masterstudiengang erfolgt die Bearbeitung in Gruppen von drei bis vier Studierenden.

1. Problem wahrnehmen Anhand des in Abb. 6 gezeigten Produktionsprozesses in Kombi-
      nation mit der in Abb. 1 gezeigten Automatisierungspyramide sollen die Studierenden
      zunächst die Herausforderungen verstehen, die sich aus einer ganzheitlichen Model-
      lierung ergeben, die zudem Schnittstellen zur Realität berücksichtigt.
2. Fragestellung finden In der zweiten Phase sollen die Studierenden an die Fragestellung
      herangeführt werden, welche Eigenschaften Modellierungssprachen für die gestellte
      Aufgabe erfüllen müssen und darauf aufbauend ihnen bekannte Modellierungsspra-
      chen hinsichtlich ihrer Verwendbarkeit hinterfragen.
3. Theoretische Grundlagen erarbeiten Da die Studierenden keinen fachlichen Hinter-
      grund in Produktion oder Automatisierungstechnik haben, geht es in der dritten Phase
      darum, das für die Bearbeitung der Aufgabenstellung relevante Fachwissen in kurzer
      Zeit zu erwerben. Sie vertiefen hierdurch das für Studierende der Wirtschaftsinfor-
      matik wichtige Wissen um unterschiedliche Denkweisen und Arbeitsmuster in den
      verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen.
4. Methoden auswählen und aneignen Anders als die Bachelor-Studierenden klären die
     Master-Studierenden die Frage, ob und welche anderen Modellierungssprachen als
     die aufgrund der genutzten WebApp verwendeten Petri-Netze sich zur Lösung der
     Aufgabenstellung eignen könnten.
5. Forschungsdesign entwickeln In der fünften Phase entwickeln die Studierenden Krite-
      rien zum Vergleich möglicher eingesetzter Methoden und Modellierungssprachen.
      Auf diesen basierend beschreiben sie ihr geplantes Vorgehen unter Verwendung der
      Design-Science Research Guidelines nach [He04].
6. Forschende Tätigkeit durchführen Auch die Studierenden setzen ihre Modelle in die
      Praxis um. Obwohl die Produktionsstraße so klein ist, hat dies eine erstaunliche
      Wirkung auf die Motivation der Studierenden, da das Ergebnis nicht nur Modelle
      sind, sondern tangible, funktionsfähige Artefakte.
7. Ergebnisse präsentieren Die Dokumentation und Präsentation der Master-Studierenden
      umfasst auch eine Diskussion der alternativ betrachteten Strategien.
8. Gesamtprozess reflektieren Hierdurch erkennen die Studierenden, wie sie die erlebte
      Vorgehensweise im weiteren Studienverlauf nutzen können.
                                             Digitale Zwillinge modellieren und verstehen 111

5   Bewertung und Ausblick

Die Konzepte des problembasierten und forschendes Lernen wurden in den letzten Semestern
in einem sehr spezifischen Gebiet durchgeführt. Dabei variieren die Parameter von Semester
zu Semester, etwa hinsichtlich der Größe der Gesamtgruppe (6 - 40 Studierende), vor allen
Dingen aber hinsichtlich des Funktionsumfangs des zur Verfügung gestellten Tools. Ein
direkter Vergleich des Lernerfolgs der beteiligten Gruppen ist daher (noch) nicht möglich.
Ferner liegt die erhoffte Wirkung dieser Art des Lernens nicht unbedingt im unmittelbaren
Erfolg, sondern sollte besonders beim Eintritt in das Berufsleben oder zu Beginn einer wis-
senschaftlichen Karriere sichtbar werden. Dann ist aber kein trennscharfer Zusammenhang
zwischen dieser einen, spezifischen Lehrveranstaltung und anderen Einflüssen herstellbar.
Regelmäßig werden jedoch die folgenden Beobachtungen gemacht:

•     Am Ende der Veranstaltung sind die Präsentationen durchweg von hohem Niveau,
      insbesondere weil die Studierenden auch während des Semesters kleine Zwischener-
      gebnisse darstellen müssen und bereits hierzu viel Feedback erhalten.
•     Die Studierenden erleben schon in frühen Semestern den Lernort Hochschule als
      einen Ort, an dem auch geforscht und teamorientiert zusammen gearbeitet wird.
      Insbesondere bei der abschließenden Reflexion wird den Studierenden der Unterschied
      zu schulischem Lernen bewusst.
•     Die einzelnen Gruppen erhalten nach ihren Präsentationen auch studentisches Feed-
      back aus dem Plenum und entwickeln so eine stärker selbstkritische Haltung.

Insgesamt zeigt sich ein positiver Zusammenhang zwischen Aktivierung der Studierenden,
der Verknüpfung zwischen theoretischen und praktischen Anteilen und einer (möglichst)
freien Gestaltung des Lernumfeldes im Rahmen problembasierten und forschenden Lernens.
Neben der Umsetzung des Konzept des problembasierten Lernens in Vorlesungen für
Bachelor im 3. Semester der Wirtschaftsinformatik wurde in diesem Jahr erstmals ein
Schülerkurs für Schülerinnen und Schüler einer Fachoberschule mit Fachrichtung Informatik
nach diesem Konzept ausgerichtet. Weiter komprimiert haben die Schülerinnen und Schüler
innerhalb von nur zwei Tagen die Schritte 1. bis 4. gemäß Abb. 3 mit einer ganz vergleichbaren
Aufgabenstellung durchlaufen können.
Künftig sollen die hier vorgestellten Konzepte aber auch zum fachbereichsübergreifenden
Lehren und Lernen genutzt werden. Hierzu sollen Lernwerkstätten, durch die im Studiengang
Logistik hochgradig praxisorientiert Wissen vermittelt und zur Anwendung gebracht wird,
durch Simulationen mit Modellen ergänzt und die Simulationsmodelle mit der praktischen
Durchführung der Lernwerkstätten verknüpft werden.
112 Carlo Simon, Stefan Haag

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