=Paper= {{Paper |id=Vol-2542/MOHOL7 |storemode=property |title=Was sollen Studierende modellieren? Erweiterung klassischer Prozessmodellierungsaufgaben um den Aspekt der Prozesserhebung (short paper) (What should Students Model? Extension of Process Modeling Tasks to include Process Elicitation) |pdfUrl=https://ceur-ws.org/Vol-2542/MOHOL7.pdf |volume=Vol-2542 |authors=Meike Ullrich,Salome E. Franzen,Andreas Oberweis |dblpUrl=https://dblp.org/rec/conf/modellierung/UllrichFO20 }} ==Was sollen Studierende modellieren? Erweiterung klassischer Prozessmodellierungsaufgaben um den Aspekt der Prozesserhebung (short paper) (What should Students Model? Extension of Process Modeling Tasks to include Process Elicitation)== https://ceur-ws.org/Vol-2542/MOHOL7.pdf
      Joint Proceedings of Modellierung 2020 Short, Workshop and Tools & Demo Papers
                                Workshop zur Modellierung in der Hochschullehre 113

Was sollen Studierende modellieren? Erweiterung
klassischer Prozessmodellierungsaufgaben um den Aspekt
der Prozesserhebung

Meike Ullrich,1 Salome E. Franzen,1 Andreas Oberweis1



Abstract: Die in diesem Beitrag beschriebene Modellierungsaufgabe wird für die Initiative zur
Sammlung und Verbreitung herausragender Modellierungsaufgaben eingereicht2 . Hier erfolgt die
Modellierung eines Prozesses nicht auf Basis einer textuellen Beschreibung des Sachverhalts, wie
dies bei klassischen Prozessmodellierungsaufgaben der Fall ist. Stattdessen bildet die Darstellung
einer Interview-Reihe mit Mitarbeitern eines fiktiven Unternehmens die Grundlage für die Erstellung
eines Modells. Dieser Ansatz ermöglicht somit eine Annäherung an die typischen Herausforderungen,
vor denen ein Prozessmodellierer in der Praxis steht.

Keywords: Prozessmodellierung; Prozesserhebung; Modellbildung; Übungsaufgaben



1    Hintergrund
Eine zentrale Kompetenz auf dem Gebiet der Modellierung ist die Modellbildung, d.h.
die Fähigkeit, ein passendes Modell zu einem definierten Kontext zu erstellen (siehe
z.B. [Gl08]). In Lehrveranstaltungen zum Thema Geschäftsprozessmodellierung erhalten
Studierende gegenwärtig zumeist Aufgaben zur Modellbildung, bei denen sie zu einer – in
prägnanter Textform angegebenen – Schilderung eines betrieblichen Ablaufs ein passendes
Prozessmodell erstellen sollen. Es liegt auf der Hand, dass diese klassischen Aufgaben zur
Modellbildung jedoch zu kurz greifen, wenn es um die Herausforderungen geht, die im
praktischen Einsatz im Rahmen der Modellierung üblicherweise bewältigt werden müssen.
So erfolgt in der Praxis vor der Modellierung zunächst eine Prozesserhebung, beispielsweise
in Form von Dokumentsichtungen, Interviews oder Workshops [Du13]. Die Erstellung
eines Prozessmodells erfolgt dann auf Basis der Ergebnisse dieser Prozesserhebung.
Die zusätzliche - aber durchaus realistische - Schwierigkeit besteht hier insbesondere
darin, die verschiedenen vorliegenden Informationen und Aussagen zusammenzufassen, zu
abstrahieren und in ein Modell zu überführen. Klassische Modellierungsaufgaben, bei denen
lediglich ein möglichst präzise formulierter Text in ein Modell überführt werden muss,
berühren diese Herausforderungen grundsätzlich nicht. Vor diesem Hintergrund werden in
der Hochschullehre aktuell die in der Praxis der Modellierung notwendigen Arbeitsschritte
nicht ausreichend berücksichtigt und von Studierenden eingeübt.
1 Karlsruher Institut für Technologie, Institut für Angewandte Informatik und Formale Beschreibungsverfahren,

  Kaiserstr. 89, 76133 Karlsruhe, Deutschland, vorname.nachname@kit.edu
2 Unter http://butler.aifb.kit.edu/initiative/ ist das entsprechende Material zum Download erhältlich.


Copyright © 2020 for this paper by its authors.
Use permitted under Creative Commons License Attribution 4.0 International (CC BY 4.0).
114 Meike Ullrich, Salome E. Franzen, Andreas Oberweis

Es existieren vereinzelt innovative Ansätze, die Prozesserhebung selbst von Studierenden
praktisch durchführen zu lassen. Dabei werden diese in Modellierungsprojekte beispiels-
weise rund um konkrete Hochschulprozesse eingebunden [BEB12; SDR19]. Obwohl die
Praxisnähe bei diesen Ansätzen durchaus gegeben ist, bestehen diverse Herausforderungen
bei der Umsetzung in der Hochschullehre. Zum einen ist es aus organisatorischer Sicht
ein komplexes Unterfangen, derartige Projekte in regelmäßig wiederkehrenden Lehrver-
anstaltungen mit großen Teilnehmerzahlen zu etablieren. Zum anderen birgt die Arbeit
der Studierenden möglicherweise qualitative Mängel (sowohl in Bezug auf die Arbeits-
weise als auch auf das Ergebnis), so dass die Projekte nicht den erhofften Nutzen für den
Anwendungskontext mit sich bringen. Aus diesem Grund wurde mit der vorliegenden
Modellierungsaufgabe stattdessen der Ansatz3 gewählt, die Prozesserhebung durch eine
fiktive Interview-Reihe nachzustellen und in den Unternehmenskontext einer bestehenden
Fallstudie einzubinden.


2    Beschreibung der Modellierungsaufgabe

Das fiktive Unternehmen Kryptowerk AG4 bildet den Mittelpunkt einer Fallstudie, die seit
dem Wintersemester 2013/2014 von Studierenden im Bachelorstudiengang Wirtschaftsin-
genieurwesen durchgeführt wird [Au16; Ca13]. In jedem Wintersemester bearbeiten ca.
220 Teilnehmer verschiedenste Modellierungsaufgaben im Kontext des Unternehmens,
das auf innovative Sicherheitslösungen im Hard- und Softwarebereich spezialisiert ist.
Für die hier vorgestellte Modellierungsaufgabe, die im Wintersemester 2019/2020 hin-
zugefügt wurde, ist ein Prozessmodell aus der Abteilung Human Resources (HR) zum
Thema Kompetenzmanagement in Form eines Petri-Netzes zu erstellen5. Dabei wird der zu
modellierende Prozess den Studierenden in Form einer Interview-Reihe mit den beteiligten
Mitarbeitern der Kryptowerk AG vorgestellt. Für die Durchführung der Interviews befolgt
der Prozessanalyst Anton Maier eine strukturierte Vorgehensweise zur Befragung der
ausgewählten Prozessteilnehmer. Diese Vorgehensweise wurde auf Basis einer Analyse
verschiedener Literaturquellen ([BKR12; BW09; FFO06]) über die Methodik der Prozess-
erhebung entwickelt. Die Darstellung der Interview-Reihe erfolgt anhand einer Sequenz von
Folien, die unter Verwendung von Microsoft PowerPoint im Comic-Stil gestaltet wurden.
Die Studierenden erhalten diese Folien als PDF-Datei. Abb. 1 zeigt drei beispielhafte Folien
aus der Darstellung der Interview-Reihe, die insgesamt 61 Folien umfasst. Auf ihnen sind die
beteiligten Charaktere und ihre jeweiligen Aussagen in Form von Sprechblasen abgebildet.
3 Die Modellierungsaufgabe wurde ursprünglich im Rahmen der Masterarbeit von Salome E. Franzen mit dem
  Titel „Multimediaeinsatz bei Übungsaufgaben zum Thema Geschäftsprozessmodellierung“ entwickelt.
4 In der Vergangenheit trug das fiktive Unternehmen auch die Namen Smarttech GmbH und SOWU Enterprises.
5 Die zu verwendende Modellierungssprache spielt eine untergeordnete Rolle. Grundsätzlich können hier auch
  andere Modellierungssprachen wie z.B. Business Process Model And Notation (BPMN) oder Ereignisgesteuerte
  Prozessketten (EPK) eingesetzt werden
             Initiative zur Sammlung herausragender Modellierungsaufgaben 115




Abb. 1: Drei Beispielfolien aus der Darstellung der Interview-Reihe
116 Meike Ullrich, Salome E. Franzen, Andreas Oberweis

Der Prozessanalyst Anton Maier befragt nacheinander verschiedene Mitarbeiter, die sich
mit dem Thema Kompetenzmanagement befassen, beginnend mit Dr. Herrmann Smart,
dem CEO der Kryptowerk AG. Es folgen Interviews mit sieben weiteren Personen aus der
HR-Abteilung, z.B. den Recruiting- und Schulungsexperten.
Um den Umfang und die Komplexität des zu modellierenden Prozesses zu veranschaulichen,
wird in Abb. 2 ein (nicht korrigiertes) studentisches Lösungsmodell für den Hauptprozess
der Modellierungsaufgabe vorgestellt.




             Abb. 2: Lösungsmodell zum Hauptprozess der Modellierungsaufgabe


Die Aufgabenstellung kann optional erweitert werden, so dass zusätzlich auch Unterprozesse
(Verfeinerungen bestehender Aktivitäten im Hauptprozess) modelliert werden müssen.
Bei der Erstellung der Interviews wurde nicht nur die festgelegte Vorgehensweise zur
Befragung umgesetzt. Es wurde darauf geachtet, dass verschiedene Schwierigkeiten, die
bei einer praktischen Durchführung zu erwarten sind, durch die Interviews abgebildet
werden. Daher reflektiert die teilweise umgangssprachliche Erzählweise in den Interviews
nicht nur unterschiedliche Sichten auf den Prozess, auch der Detaillierungsgrad der
Beschreibungen wird variiert. Ebenso werden zum Unterprozess für die Schulung neuer
Mitarbeiter zwei verschiedene Personen interviewt, die ihre gemeinsamen Tätigkeiten
unterschiedlich wiedergeben. Auf diese Weise wird von den Studierenden gefordert, die
zahlreichen verschiedenen Aussagen über den Prozess zu interpretieren und in den richtigen
Zusammenhang zu bringen, um ein passendes Prozessmodell zu entwerfen.
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3   Erfahrungen

Die Modellierungsaufgabe wurde vor dem Einsatz im Lehrbetrieb im Wintersemester
2019/2020 mit sechs ausgewählten Probanden getestet, die im Rahmen ihres Studiums
zuvor bereits Grundlagen zur Geschäftsprozessmodellierung erworben hatten und mit der
typischen Aufgabenform klassischer Modellierungsaufgaben vertraut waren. Die Probanden
benötigten für die Bearbeitung der Aufgabe (inklusive Modellierung der Unterprozesse)
zwischen einer und zwei Stunden. Im Anschluss an die Bearbeitung der Aufgabe wurde von
den Probanden qualitatives Feedback durch einen Fragebogen mit offenen Fragestellungen
(Freitext) eingeholt. Die folgenden Stichpunkte geben die Ergebnisse in zusammengefasster
Form wieder:

•     Die Aufgabe wurde als ansprechender und interessanter als klassische Modellie-
      rungsaufgaben empfunden. Ebenso wurde der Praxis- bzw. Realitätsbezug von den
      Probanden als höher eingestuft.
•     Den Antworten der Probanden nach erfordert die Bearbeitung der Aufgabe mehr
      Konzentration, da die Informationen zum Prozess über verschiedene Aussagen
      gestreut sind. Zudem müssen relevante Prozessaktivitäten zwischen nebensächlichen
      Randinformationen herausgefiltert werden.
•     Die Interview-Fragen wurden teilweise als eintönig empfunden, da sie immer nach
      dem gleichen Muster gestellt wurden. Hierzu hätten noch verschiedene spontane
      Zwischenfragen eingebaut werden können.
•     Die Probanden gaben an, durch die Modellierungsaufgabe die Bedeutung einer
      systematischen Prozesserhebung im Rahmen der Modellierung erkannt zu haben.
      Dieser Aspekt wurde bislang in der Lehre nicht addressiert.


4   Ausblick

Für die kommenden Semester ist eine Erweiterung der Lerninhalte um Methoden für die
Prozesserhebung in Planung, ebenso soll die Darstellung der Interviews künftig detaillierter
ausgearbeitet werden. Es bestehen Überlegungen, die Interview-Reihe in anderen Formaten
umzusetzen. Ein möglicher Ansatz wäre es, die Interview-Reihe mit echten Darstellern in
Form eines Films aufzunehmen. Allerdings bringt dieses Format verschiedene Nachteile mit
sich: Neben dem initial hohen Aufwand für die Produktion wird es schwierig bis unmöglich,
die Inhalte des Films nachträglich zu modifizieren, wenn Anpassungen vorgenommen
werden sollen. Zudem ist es für Studierende umständlich, die relevanten Informationen
aus einem Film zu extrahieren. Es wäre nötig, zahlreiche Pausen während dem Abspielen
einzulegen, um die Inhalte in einem Zwischenschritt schriftlich festhalten zu können. Die
schriftliche Protokollierung der Aussagen ist zwar einerseits realistisch, andererseits wäre es
wünschenswert, die Studierenden die Prozesserhebung nicht nur passiv durch das Betrachten
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eines Films miterleben zu lassen, sondern ihnen zu ermöglichen, tatsächlich aktiv in die
Rolle des Interviewers zu schlüpfen. Hierzu müsste der relevante Unternehmenssausschnitt
der Kryptowerk AG in eine virtuelle Umgebung verlagert werden. Studierende würden
in diesem Szenario den Avatar des Prozessanalysten kontrollieren und selbstständig ihre
Interviewpartner aufsuchen und ihnen passende Fragen aus einer Auswahl möglicher
Fragen stellen müssen. In Betracht kämen hierfür z.B. virtuelle Welten wie Second Life
(http://secondlife.com) oder die Umsetzung in einer Engine für Adventure Games, für
die teilweise sogar grafische Entwicklungsumgebungen existieren.


Literatur

[Au16]     Augenstein, D.; Citak, M.; Ullrich, M.; Vetter, A.: Experience report: Social
           BPM Lab enhanced with participation of professionals. In: Modellierung 2016 -
           Workshopband. Gesellschaft für Informatik e.V., S. 71–78, 2016.
[BEB12]    Bührig, J.; Ebeling, B.; Breitner, M. H.: Prozesserhebung einmal anders: Stu-
           dierende erheben und modellieren die Prozesse ihrer Hochschule. In: Proc.
           42. Jahrestagung der GI (Informatik 2012). Gesellschaft für Informatik e.V.,
           S. 690–704, 2012.
[BKR12]    Becker, J.; Kugeler, M.; Rosemann, M.: Prozessmanagement. Ein Leitfaden zur
           prozessorientierten Organisationsgestaltung. Springer Gabler, 2012.
[BW09]     Best, E.; Weth, M.: Geschäftsprozesse optimieren. Der Praxisleitfaden für
           erfolgreiche Reorganisation. Springer Gabler, 2009.
[Ca13]     Caporale, T.; Çitak, M.; Lehner, J.; Schoknecht, A.; Ullrich, M.: Social BPM Lab -
           Characterization of a Collaborative Approach for Business Process Management
           Education. In: Proc. of 15th IEEE Conference on Business Informatics (CBI
           2013). S. 367–373, 2013.
[Du13]     Dumas, M.; La Rosa, M.; Mendling, J.; Reijers, H. A.: Fundamentals of Business
           Process Management. Springer, 2013.
[FFO06]    Fischer, H.; Fleischmann, A.; Obermeier, S.: Geschäftsprozesse realisieren.
           Vieweg Verlag, 2006.
[Gl08]     Glinz, M.: Modellierung in der Lehre an Hochschulen: Thesen und Erfahrungen.
           Informatik Spektrum 31/5, S. 425–434, 2008.
[SDR19]    Sackmann, S.; Damarowsky, J.; Raschke, K.: Projekt ProDig@Students, 2019,
           url: https://prodig.uni-halle.de/, Stand: 10. 12. 2019.