=Paper= {{Paper |id=None |storemode=property |title=Trägheitsbasiertes Navigationssystem für die Harnblasenendoskopie |pdfUrl=https://ceur-ws.org/Vol-715/bvm2011_47.pdf |volume=Vol-715 }} ==Trägheitsbasiertes Navigationssystem für die Harnblasenendoskopie== https://ceur-ws.org/Vol-715/bvm2011_47.pdf
    Trägheitsbasiertes Navigationssystem für die
                Harnblasenendoskopie

       Alexander Behrens, Jonathan Grimm, Sebastian Gross, Til Aach

Lehrstuhl für Bildverarbeitung, RWTH Aachen University, 52056 Aachen, Germany
                      alexander.behrens@lfb.rwth-aachen.de



      Kurzfassung. Bei der Harnblasenvideoendoskopie ist das Navigieren
      und das kontrollierte Sichten des gesamten Hohlorgans durch das be-
      grenzte Sichtfeld des Endoskops für den Urologen stark erschwert. Als
      Navigationshilfe können hierbei zusätzliche externe Navigationssysteme
      eingesetzt werden. Da jedoch aufgrund zu hoher Kosten optische und
      magnetische System bisher nicht verwendet wurden, steigt das Interesse
      an low–cost Systemen. Hierzu wurde ein erstes zystoskopisches Naviga-
      tionssystem mittels Trägheitssensorik entwickelt, welches mit einer Feh-
      lertoleranz von ca. 2◦ Winkelgrad eine erste robuste und kostengünstige
      Orientierungshilfe für die Harnblasenendoskopie darstellt.


1   Einleitung

Die minimalinvasive Harnblasenspiegelung (Zystoskopie) zur Diagnose und The-
rapie von Blasenkrebs mittels eines Videoendoskopiesystems führt oft zu einer
gestörten Hand–Auge–Koordination für den Chirurgen. Eine gezielte Navigation
und Orientierung innerhalb des Hohlorgans ist stark erschwert. Dies wird durch
den Einsatz der PDD–Fluoreszenztechnik (photo dynamic diagnostics) noch wei-
ter verstärkt, da das Zystoskop hierbei für eine gute Bildbelichtung stets dicht
(≤ 1cm) an der Blasenwand entlang geführt werden muss. Somit liegt im Field
of View (FOV) des Zystoskops ein nur sehr kleiner Ausschnitt der Organin-
nenfläche. Die Komplexität für das Wiederauffinden von zuvor protokollierten
Tumoren und das Sicherstellen einer vollständigen und lückenlosen Organspie-
gelung ist daher stark erhöht.
    Computergestützte Navigationshilfen für zystoskopische Untersuchungen ver-
wenden bisher bildbasierte Systeme, welche Übersichtsbilder der inneren Bla-
senwand durch Bildregistrierung und Stitching erstellen [1, 2]. Der Einsatz von
zusätzlichen externen Navigationssystemen wurde dagegen bisher noch nicht wei-
ter berücksichtigt. Vielfach erschweren die hohen Kosten für optische und ma-
gnetische Systeme die klinische Etablierung. Dagegen könnten inertiale Syste-
me trotz systembedingter größerer Fehlertoleranzen low–cost Navigationshilfen,
wie z.B. eine Drehwinkelkompensation [3] anbieten. Ein erstes zystoskopisches
Navigationssystem zur räumlichen Positionsbestimmung, bestehend aus mikro–
elektromechanischen Systemen (MEMS) wird in dieser Arbeit vorgestellt und
evaluiert.
                                      Trägheitsbasiertes Navigationssystem       225

2   Aufbau und Methoden
Das entwickelte inertiale Navigationssystem (INS) besteht aus einem Beschleu-
nigungssensor mit drei Freiheitsgraden (ST LIS3L02AL) und zwei Gyrosko-
pen (EPSON XV-3500CB). Deren orthogonale Anordnung am Zystoskop ist
in Abb. 1 gezeigt. Die Sensordaten werden aus LEGO⃝        R
                                                              Mindstorms⃝  R
                                                                              NXT
Bricks (32-Bit-ARM-Prozessor) ausgelesen und über die PC–USB Schnittstelle
übertragen. Hierbei werden im Mittel 2 · 300 Gyroskopwerte und 80 Beschleuni-
gungsvektoren pro Sekunde verarbeitet.
    Durch die Anatomie des Menschen stellt der Blasenausgang einen rotatori-
schen Angelpunkt für die Bewegung des starren Zystoskops dar. Damit reduziert
sich die Anzahl der Freiheitsgrade von sechs (x, y, z, ϕ, ψ, θ) auf insgesamt vier
(R, ϕ, ψ, θ) (vgl. Abb. 1). R beschreibt hierbei den Abstand zwischen Endoskop-
spitze und Rotationszentrum. ϕ und θ definieren die beiden Raumwinkel um
die y– und die z–Achse und ψ die Drehung um die x- bzw. optische Achse xs
des Endoskops. Unter der Annahme einer gleichförmigen realistischen Freihand-
bewegung kann der Anteil einer zum Schwerefeld überlagerten Beschleunigung
bei der Positionsbestimmung des Zystoskops in erster Näherung vernachlässigt
werden. Die Beschleunigungswerten beinhalten dann nach Gleichung 1 und 2 die
Drehwinkel, die die Rückdrehung in das Koordinatensystem des Schwerefelds
g = gez beschreiben:
                                                                   
    ax         1    0       0       cos ϕ 0 − sin ϕ       cos θ sin θ 0       0
                                                                   
   ay  =  0 cos ψ sin ψ   0 1               0   − sin θ cos θ 0   0 
    az         0 − sin ψ cos ψ      sin ϕ 0 cos ϕ           0      0 1        g
  | {z } |            {z        }|         {z        }|         {z        } | {z }
    a               Rx                    Ry                       Rz         g
                                                                                  (1)


                                                   

                                                        
                                                             x
                             R                              -

                                                     Beschleunigungssensor
                                 x         y
                                      z                     xs
                                                zs
                                                                   ys
                g
                                            Gyroskope




Abb. 1. Versuchsaufbau mit Blasenphantom, Referenzpunkten und Angaben der Sen-
sorenanordnung, der Freiheitsgrade R, ψ, ϕ, θ und der Koordinatensysteme.
226    Behrens et al.
                                                
                                     − sin ϕ g
                                                
                             a =  sin ψ cos ϕ g                             (2)
                                   cos ψ cos ϕ g
Die Rotation um ϕ, ψ und die axiale Verschiebung R des Zystoskops berechnen
sich damit zu
                 (     )               ( )               ∫∫ T
                    ax                   ay
       ϕ = arcsin −      , ψ = arctan          und R =          ax dt2  (3)
                    g                    az                 t=0

Aufgrund der vertikalen Ausrichtung des Beschleunigungssensors zum Schwere-
feld g ist dieser gegenüber der Rotation Rz um die z-Achse invariant, so dass
zur Berechnung von θ die Gyroskope verwendet werden. Durch die orthogonale
Anordnung der beiden Sensoren G1 , G2 (vgl. Abb. 1) ergeben sich die beiden
Winkelanteile ∆θG1 , ∆θG2 durch kurzzeitige Integration im Zeitintervall ∆t zu
             ∫                                      ∫
   ∆θG1 ,t =       vG1 (τ ) cos ψt dτ und ∆θG2 ,t =       vG2 (τ ) sin ψt dτ (4)
             τ =∆t                                           τ =∆t

In guter Näherung wird in Gleichung 4 im Zeitintervall ∆t ein konstanter Rota-
tionswinkel ψt angenommen. Der resultierende Wikel θ ergibt sich nach

                                ∑
                                T
                           θ=         (∆θG1 ,t + ∆θG2 ,t )                    (5)
                                t=0

aus der Summe aller kurzzeitigen und synchronisierten Sensormessungen.
   Zur Evaluierung der Messgenauigkeit des Systems wird ein kugelförmiges Bla-
senphantom mit 17 ausgemessenen Referenzpositionen (siehe Abb. 1) verwendet.
Der Versuchsaufbau beinhaltet eine Halterung mit einer festen Lochführung, wel-
ches das Rotationszentrum und damit den Blasenausgang repräsentiert.

2.1   Messungen
Durch Rausch- und Offsetmessungen werden die Inertialsensoren zunächst cha-
                                                                            2
rakterisiert und kalibriert. Im Ruhestand werden die Rauschvarianzen σ0,G     1
                                                                                ,
  2
σ0,G2 , sowie die mittleren Offsets v0,G1 , v0,G2 der Gyroskope bestimmt. Diese
werden zur Mittelwertbefreiung und unter der Modellannahme eines additiven
Rauschens zur Wiener–Filterung der Sensorwerte verwendet. Zusätzlich werden
Sensorwerte ≤ 1◦ /sec unterdrückt. Zur Kalibrierung des Beschleunigungssensors
wird dieser in und entgegen der Richtung des Schwerefelds gedreht, der minima-
le und maximale Sensorwert bestimmt und mit ±g gleichgesetzt. Zwischenwerte
werden linear interpoliert und die Offsets ϕ0 , ψ0 bestimmt. Zur Rauschunter-
drückung wird ein gleitender Mittelwert mit einer Filterbreite von w = 5 ver-
wendet.
    Zur Evaluierung der Winkelfehler werden drei Versuche durchgeführt. In Mes-
sung A wird das Zystoskop an die Referenzpunkte des Blasenphantoms (vgl.
Abb. 1) für einige Sekunden lang gehalten und ϕ ausgewertet. In Messung B wird
                                                      Trägheitsbasiertes Navigationssystem                                 227

das Zystoskop vom Mittelpunkt des Phantoms mehrfach zu den jeweiligen Refe-
renzpunkten durch unterschiedliche Freihandbewegungen und Bahntrajektorien
geführt. Dies simuliert das gezielte Anfahren von Tumoren. Nach Erreichen des
Punktes (t = T ≈ 5 − 20sec) wird der Drehwinkel ϕ anhand der letzten k = 5
Drehwinkel gemittelt und der bis dahin durch Gleichung 5 bestimmte Winkel θ
ausgewertet. Der Winkelfehler ϵψ wird in Messung C evaluiert. Hierbei wird das
Endoskop mehrfach um die optische Achse hin und her gedreht und der Winkel
ψ nach Gleichung 3 berechnet. Referenzwinkel ψRef werden aus den Endoskop-
bildern gewonnen, indem die Verdrehung der charakteristischen endoskopischen
Richtungsmarkierung (siehe Abb. 2) automatisch detektiert wird.


3   Ergebnisse

Die Ergebnisse der Fehlermessungen sind in Abb. 2 dargestellt. Nach Messung
A ergibt sich für ϕ ein mittlerer absoluter Winkelfehler von ϵϕA = 0.312◦ und
eine Fehlervarianz von σϵ2ϕA = 0.036◦2 . Messung B ergibt eine über alle Daten-
punkte und Bahntrajektorien gemittelte absolute Abweichung für ϕ und θ von
                                                             ◦
ϵϕB = 0.392◦ , σϵ2ϕB = 0.078◦2 und ϵθ = 1.949◦ , σϵ2θ = 0.495 2 . Der mittlere abso-
                                                                          ◦
lute Fehler für ψ beträgt aus Messung C ϵψ = 3.369◦ und σϵ2ψ = 5.961 2 .


           40

           30
                                                                                                                       εψ
           20                                                                                                          εθ
           10
       φ
           0

        −10

        −20

        −30

        −40                                                   −40       −30   −20   −10        0   10   20        30   40
         −40 −30 −20 −10    0     10   20   30   40
                           φRef                                                     Winkelgrad

                                   Richtungs-                                           Zielreferenzpunkt
                                    makierung




                                       



                                                           Startpunkt

                                                                    0         10          20       30        40
                                                                                    θ


Abb. 2. Mittlerer Fehler und absolute Min-Max-Fehlerbalken von ϕ für jeden Phan-
tom-Referenzpunkt (l.o.). Mittlerer absoluter und Min-Max-Fehler von ϕ, θ (r.o.). ψ–
Bestimmung durch Detektion der endoskopischen Richtungsmarkierung (Einkerbung)
(l.u.). Bahntrajektorien von acht unterschiedlichen Freihandbewegungen eines Refe-
renzpunktes (r.u.).
228     Behrens et al.

4     Diskussion
Für ϕ ergibt sich sowohl für das ruhige Festhalten als auch während einer gleich-
förmigen Bewegung des Zystoskops ein Winkelfehler von unter 0.5◦ Winkelgrad,
welcher eine sehr genaue Lagebestimmung zulässt. Weiterhin kann aus den Be-
schleunigungswerten direkt der Rotationswinkel ψ um die optische Achse des
Zystoskop mit einer Genauigkeit von ca. 4◦ erreicht werden. Trotz dieses hö-
heren Fehlers kann aufgrund des größeren Öffnungswinkels des Zystoskops der
Referenzpunkt noch zuverlässig im Endoskopbild erfasst werden. Obwohl das ku-
mulative Aufsummieren von Sensorwerten zu einem steigenden Messfehler und
einer Drift von θ (2◦ − 7◦ ) führt, erfolgt das gezielte Anfahren von Zielstrukturen
mit einem tolerierbaren mittleren absoluten Fehler von ca. 2◦ Winkelgrad. Eine
zuverlässige Bestimmung von R nach Gleichung 3 ist hingegen durch die Zwei-
fachintegration und der geringeren Abtastrate des Beschleunigungssensors nicht
möglich, so dass dieser Freiheitsgrad hier noch unbestimmt bleibt. Dennoch kann
dieses low–cost Inertialsystem dem Urologen beim Protokollieren und räumlichen
Wiederauffinden von Tumoren unterstützen. Dazu können wie in Abb. 3 gezeigt,


Abb. 3. Eingeblendete Richtungspfeile mit
Sollwinkelpositionen.                                      -
                                                            P
                                                      P

                                                                 -
                                                                 P
                                                     -
                                                      P




Richtungspfeile für die Sollposition des Zystoskops dem aktuellen Endoskopbild
überlagert werden. Hierbei verkürzen sich die Pfeillängen auf die noch verblei-
benden Winkeldifferenzen. In weiteren Arbeiten werden zur Minimierung der
Winkelfehler zusätzlich Bewegungsvektorfelder aus den Bilddaten herangezogen.
Die ersten Ergebnisse versprechen dennoch schon jetzt eine kostengünstige und
potentielles Navigationshilfe, zu der weiteres ärztliches Feedback erhoben wird.


Literaturverzeichnis
1. Behrens A, Bommes M, Stehle T, et al. A multi-threaded mosaicking algorithm for
   fast image composition of fluorescence bladder images. Proc SPIE. 2010;7625.
2. Miranda-Luna R, Daul C, Blondel W, et al. Mosaicing of bladder endoscopic image
   sequences: distortion calibration and registration algorithm. IEEE Trans Biomed
   Eng. 2008;55(2):541–53.
3. Höller K, Penne J, Schneider A, et al. Endoscopic orientation correction. Lect Notes
   Computer Sci. 2009;5761:459–66.